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Verwischte Grenzen – wie Amerikas Eliten Demokratie und freien Markt unterwandern

Die Anthropologin Janine R. Wedel liefert mit ihrem Buch „Shadow Elite“ eine verblüffende Analyse der amerikanischen Politik und Wirtschaft der 2000er Jahre. Ihre Fallbeispiele weisen erstaunliche Parallelen zu jenen österreichischen Polit- und Korruptionsaffären auf, die uns heute beschäftigen.

Janine R. Wedel stellt in Shadow Elite äußerst überraschende Verbindungen zwischen zwei entgegengesetzten Entwicklungen in der amerikanischen Gesellschaft her: zum einen die Pseudo-Privatisierung weiter Teile der amerikanischen Verwaltung, zum anderen die Personalisierung von Entscheidungen in der Politik. Die gemeinsame Klammer ihrer Analysen ist das Konzept der „Flexians“.

Die Flexians

Mit diesem Begriff beschreibt Wedel Personen, die ihre unterschiedlichen Rollen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, NGOs und Medien situationsbezogen zum eigenen Vorteil kombinieren. Durch flexible Loyalitäten und flexibles Handeln setzen sie persönliche Ziele und Ziele kleiner abgeschlossener Zirkel durch. Dies geschieht jedoch immer auf Kosten der Organisationen, für die die Flexians vordergründig tätig sind. Meist sind dies Institutionen der Verwaltung, die früher öffentlicher demokratischer Kontrolle unterlagen. Vier Merkmale kennzeichnen Flexians:

I. Personalisierung von Bürokratie

Flexians organisieren sich über personalisierte Beziehungen innerhalb offizieller Strukturen. Dabei nutzen sie zwar formale Organisationen, verfolgen aber letztlich ihre eigenen Ziele. Sie formen ein Netzwerk, das aber weit weniger sichtbar ist als in klassischen Strukturen. Hier zieht Wedel die Grenze zu Lobbyisten und Old-Boy-Netzwerken und beschreibt ein neues soziales Phänomen. Die Personalisierung von Bürokratie, einhergehend mit der Stärkung exekutiver Macht, sieht Wedel im direkten Gegensatz zum Modell der rationalen Bürokratie Max Webers. Als prototypisch beschreibt die Autorin das Netzwerk rund um den ehemaligen Weltbankpräsidenten Paul Wolfowitz, das in erstaunlicher Weise in weite Teile der amerikanischen Politik und Verwaltung hineinreichte.

II. Privatisierung von Information

Die Privatisierung objektiver Informationen bei gleichzeitig öffentlich vorgetragenen subjektiven Überzeugungen stellt ein weiteres Merkmal des Handels von Flexians dar. Vor allem in der Kommunikation über die Medien zeigt sich, wie sie den Zugang zur öffentlichen Aufmerksamkeit instrumentalisieren. Flexians transportieren in gesellschaftlichen Debatten mit Hartnäckigkeit die Meinungen ihrer kleinen Gruppe – allerdings verschleiert als objektive Information.

III. Wechselnde Rollen

Flexians treten nicht in einer einzigen Rolle öffentlich auf. Sie jonglieren – je nach Bedarf – mit ihren Rollen, obwohl die verschiedenen Rollenbilder einander oft diametral gegenüber stehen. Dieses Phänomen gelangte nicht zufällig in den USA zu besonderer Bedeutung, wo Akteure aus Politik und Verwaltung häufig außerhalb der formellen Verwaltung in Think Tanks und quasi-staatlichen Organisationen tätig sind.

IV. Gelockerte Regeln

Viertes Merkmal ist das Lockern von Regeln an den Schnittstellen offizieller und privater Institutionen. Flexians erreichen ihre Ziele, indem sie sowohl die Regeln der Rechenschaftspflicht der Bürokratie, als auch die Regeln des freien Wettbewerbs der Wirtschaft je nach Situation interpretieren und so geschickt umgehen.

Frappierende Parallelen zu Österreich

Die spannendsten Teile des Buches sind jene, die amerikanische Politaffären schildern, aber in beunruhigender Weise an altbekannte Muster in Österreich erinnern. Fast schon sprichwörtlich gewordene Namen wie Strasser, Grasser, Meischberger, Hochegger oder Mensdorff-Pouilly tauchen immer wieder als Assoziationen zu den amerikanischen Protagonisten auf. Die Namen und Organisationsbezeichnungen in den von Wedel beschriebenen Episoden ließen sich in einigen Fällen ohne Umstände mit hiesigen austauschen.

Wedels Methode ist die Kombination aus anthropologischer Verhaltensbeobachtung, qualitativer Interviewforschung und Archivrecherche. Diese Methode ist ein ausgezeichnetes Beispiel für investigative Wissenschaft im Bereich wirtschaftspolitischer Fragen, die in Österreich und im deutschsprachigen Raum großes Potenzial hätte.

Cover: Shadow Elite, © Basic Books
Cover: Shadow Elite

Shadow Elite. How the World's New Power Brokers Undermine Democracy, Government, and the Free Market  ist auf Englisch bei Basic Books erschienen. Für die deutsche Übersetzung wird ein Verlag gesucht.

Autoren

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Mag. Matthias Reiter-Pázmándy

Mag. Matthias Reiter-Pázmándy studierte Soziologie an der Universität Wien und der Université catholique de Louvain und ist im Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWFW) b...