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EuGH: „Unbekannt verzogen“ bewahrt nicht vor Gerichtsverfahren

Die Unmöglichkeit, den aktuellen Wohnsitz eines Beklagten ausfindig zu machen, darf dem Kläger nicht das Recht auf ein gerichtliches Verfahren nehmen. Daher entschied der Europäische Gerichtshof heute, dass in so einem Fall die Gerichte des letzten bekannten Wohnsitzes tätig werden können.
Von Redaktion
17. November 2011

Eine tschechische Bank, die Hypoteční banka, und Herr Lindner, ein deutscher Staatsangehöriger, schlossen zur Finanzierung eines Immobilienkaufs einen Vertrag über ein Hypothekendarlehen. Zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Darlehenvertrags hatte Herr Lindner seinen Wohnsitz in Mariánské Láznĕ (Tschechische Republik) und war nach dem Vertrag verpflichtet, der Bank jede Wohnsitzänderung mitzuteilen. Für eventuelle Rechtsstreitigkeiten war vereinbart, dass das ordentliche Gericht am Sitz der Bank zuständig ist.

„Unbekannt verzogen“

Die Bank erhob beim Okresní soud v Chebu (Tschechische Republik) Klage gegen Herrn Lindner auf Zahlung eines Betrags in Höhe von 4.383.584,60 CZK (ca. 175.214 Euro) zuzüglich Verzugszinsen wegen Zahlungsrückstands aus dem Darlehen. Dieses Gericht stellte fest, dass sich Herr Lindner nicht mehr an der im Vertrag angegebenen Adresse aufhielt, und es gelang ihm nicht, einen Wohnsitz in der Tschechischen Republik festzustellen.

Unter diesen Umständen ersuchte das tschechische Gericht den Gerichtshof um Auslegung der Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und insbesondere um Beantwortung der Frage, ob diese Verordnung einer Bestimmung des nationalen Rechts eines Mitgliedstaats entgegensteht, die die Durchführung von Verfahren gegen Personen ermöglicht, deren Aufenthalt unbekannt ist.

Gerichte des letzten bekannten Wohnsitzes zuständig

In seinem Urteil vom heutigen Tag führt der Gerichtshof zunächst aus, dass die Verordnung die gerichtliche Zuständigkeit für den Fall, dass der Wohnsitz des Beklagten nicht bekannt ist, nicht ausdrücklich regelt.

Sodann weist er darauf hin, dass über Klagen des anderen Vertragspartners gegen den Verbraucher die Gerichte des Mitgliedstaats zu entscheiden haben, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.

Gelingt es dem nationalen Gericht jedoch nicht, den Wohnsitz des Verbrauchers im Inland festzustellen, hat es zu prüfen, ob er seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hat. Kann das nationale Gericht keinen Wohnsitz des Verbrauchers im Unionsgebiet feststellen und verfügt es auch nicht über beweiskräftige Indizien, die den Schluss zulassen, dass der Beklagte seinen Wohnsitz tatsächlich außerhalb der Union hat, gilt im Fall eines Rechtsstreits der Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich der Wohnsitz des Verbrauchers befindet, nicht nur für den aktuellen Wohnsitz des Verbrauchers, sondern auch für seinen letzten bekannten Wohnsitz.

Eine solche Auslegung der Verordnung ermöglicht laut EuGH dem Kläger, ohne Schwierigkeiten festzustellen, welches Gericht er anrufen kann, und dem Beklagten, vorherzusehen, vor welchem Gericht er verklagt werden kann. Auch könne damit vermieden werden, dass die Unmöglichkeit, den aktuellen Wohnsitz des Beklagten ausfindig zu machen, die Bestimmung des zuständigen Gerichts verhindert, was dem Kläger sein Recht auf ein gerichtliches Verfahren nehmen würde. Außerdem gewährleiste diese Lösung ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den Rechten des Klägers und denen des Beklagten, wenn dieser die Verpflichtung hatte, dem Kläger jede Adressänderung mitzuteilen, die sich nach der Unterzeichnung des langfristigen Hypothekendarlehensvertrags ergeben hat.

Folglich hat der Gerichtshof entschieden, dass die tschechischen Gerichte zuständig sind, über die Klage der Bank gegen Herrn Lindner zu entscheiden, wenn sie seinen aktuellen Wohnsitz nicht ausfindig machen können.

Bestellung eines Prozesspflegers erlaubt

Schließlich hat der Gerichtshof die nach tschechischem Recht in einem solchen Fall vorgesehene Möglichkeit geprüft, das Verfahren ohne Wissen des Beklagten durch Bestellung eines Prozesspflegers und Zustellung der Klage an diesen fortzusetzen. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Maßnahmen zwar die Verteidigungsrechte beeinträchtigen, eine solche Beeinträchtigung jedoch im Hinblick auf das Recht des Klägers auf einen effektiven Rechtsschutz gerechtfertigt ist. Denn ohne Bestellung eines Prozesspflegers, dem die Klage zugestellt werden kann, könnte der Kläger dieses Recht gegenüber einer Person ohne bekannten Wohnsitz nicht ausüben. Das angerufene Gericht muss sich allerdings stets vergewissern, dass alle Maßnahmen ergriffen wurden, die erforderlich sind, um diese Person ausfindig zu machen, damit sie sich verteidigen kann.

Weitere Infos:

Volltext der Entscheidung

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